Den Kopf voll mit Hoffnung

Schreibereien

Ein junger Syrer flieht schwer verletzt von Damaskus nach Möhringen. Zwei Jahre, neun Monate, eine Flucht durch fünf Länder und 56 Operationen später, kämpft er sich zurück ins Leben – über einen Neubeginn im Sehnsuchtsland Deutschland, das zu erreichen nach der Schließung der Grenzen für Flüchtlinge wie ihn fast unmöglich geworden ist.

Möhringen Immer wieder beugt er sich leicht nach vorne, wenn er einen Satz nicht ganz verstanden hat. Der junge Syrer sitzt aufrecht in seinem Rollstuhl, manchmal stützt er sich mit seinem gesunden Arm an der Lehne ab. Seine Haut ist mit Narben übersät, die sich wie ein Muster über beide Arme und Hände ziehen. „Ich will unbedingt gut Deutsch sprechen, damit ich zur Schule gehen kann“, sagt Mohamad Abdul Hai. In seinem Blick funkelt der Ehrgeiz. Für den 21-­Jährigen steht das Abitur ganz oben auf seiner Prioritätenliste. Die Chance auf einen Abschluss in seiner Heimatstadt Damaskus wurde ihm von einer Bombe genommen. Sein linkes Bein und der Mittelfinger der linken Hand mussten dem damals 17­-Jährigen amputiert werden, in seinem Körper stecken immer noch winzig kleine Bombensplitter.

Zwei Jahre, neun Monate, eine Flucht durch fünf Länder und 56 Operationen später kann Abdul Hai wieder lächeln. Er hat es irgendwie geschafft nach Deutschland zu kommen, er wohnt im Flüchtlingswohnheim am Lautlinger Weg. Abdul Hai teilt sich das Zimmer mit einem jungen Araber, denn ganz allein kann er seinen Alltag nicht mehr bewältigen. Das zehn Quadratmeter große Zimmer soll eigentlich Platz für vier Bewohner, zwei Hochbetten und Schränke bieten. „Hier hat jeder seine eigenen Probleme, Privatsphäre gibt es nicht“, sagt seine Pflegerin Maren Baitz. Privatsphäre hat der junge Syrer aber dringend notwendig. „Immer, wenn ich zur Toilette will, muss ich mich komplett anziehen. Ich will ja nicht, dass die Kinder sich vor meinem Beinstumpf erschrecken“, erklärt Mohamad Abdul Hai leise. Auch die Blicke der anderen sind ihm unangenehm. Das Anziehen ist anstrengend, in seinem Zimmer hat er eine Schublade voll mit Medikamenten, die seine Schmerzen betäuben. Deshalb sucht seine Pflegerin für den 21­-Jährigen eine geeignete Wohnung. Die muss allerdings barrierefrei sein. „Er wird einmal im Monat operiert und muss sich danach ausruhen, das sind schwere Eingriffe“, sagt Baitz mit Nachdruck.

Denn er will Geld verdienen. Geld, das seine Familie dringend braucht, für die Ausreise, Lebensmittel und Medikamente.

Die 42­-Jährige hat den jungen Mann vor sechs Monaten kennengelernt und ist seitdem für ihn fünf Stunden am Tag im Einsatz. „Maren ist meine Ersatz­-Familie hier“, sagt Abdul Hai. Bei dem Wort „Familie“ trübt sich sein sonst wacher Blick, niedergeschlagen sinkt er in seinen Rollstuhl zurück. Er sucht Halt, aber seine Hände tasten ins Leere. „Eigentlich sollte meine Mutter jetzt bei mir sein und mich pflegen“, flüstert er leise. Seine Familie musste er im Libanon zurücklassen, obwohl es dort weder Insulin für die kranke Mutter noch ausreichend Lebensmittel für seine kleinen Geschwister gibt. Seine deutsche Pflegerin ist selbst Mutter von mehrfach behinderten Kindern und kennt die Tücken des Alltags für Rollstuhlfahrer. Baitz steht ihm mit Rat und Tat zu Seite: Sie erledigt Botengänge zu den Behörden, kocht für ihn, fährt ihn zum Krankenhaus und nimmt ihn einmal in der Woche mit zu sich nach Hause, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern. „Mohamad kann ja noch nicht fließend Deutsch sprechen, wie soll er da Papiere ausfüllen und sich verständlich machen?“, ärgert sich Baitz.

Auch der junge Syrer ist sich bewusst, wie wichtig das Deutschlernen ist. „Einmal wurde ich in der Fußgängerzone vor einem Amt abgesetzt und ich sollte einfach auf ein Gebäude zeigen und um Hilfe bitten“, erzählt der 21­-Jährige. Dass er ohne Deutsch und Englisch­ Kenntnisse niemanden ansprechen konnte, hatten die Leute von der Flüchtlingsunterkunft wohl nicht bedacht. „Er saß dann da, in einem kaputten Rollstuhl, und hat hilflos zum Gebäude geschaut“, ergänzt Baitz fassungslos seine Geschichte. Ein vorbeilaufender Flüchtling habe ihn dann auf Arabisch angesprochen und geholfen. „Damals hat er noch am Nordbahnhof gewohnt, das war wirklich schlimm für ihn“, sagt Maren Baitz. Für seine spektakuläre Flucht nach Deutschland ist der damals schwer verletzte 19­-Jährige zunächst über den Libanon in die Türkei geflüchtet. Von dort gelangte er nach Libyen, danach weiter nach Algerien, von dort aus nach Italien – und das alles mit nur einem Bein, noch schwer gezeichnet von der Bombe. „Ich bin geschwommen, wurde getragen, gezogen und gefahren“, erzählt er. In Italien angekommen wurde der Syrer wie alle Asylbewerber, die nach Deutschland wollen, zunächst nach Karlsruhe geschickt und dann nach Stuttgart verwiesen. „Ich hatte keinen Rollstuhl und musste tagelang deshalb im Bett liegen bleiben“, erinnert er sich. Sein Blick ist zur Decke gerichtet, es fällt ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. Wirklich gekümmert habe man sich dort um Mohamad nicht, so Baitz. „Sein Lebenswille und sein Ehrgeiz beeindrucken mich jeden Tag wieder“, sagt sie.

Ich bin geschwommen, wurde getragen, gezogen und gefahren

Nach elf Monaten in Deutschland geht es für den jungen Syrer langsam bergauf. Er besitzt nun endlich eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Und mit ihr kam die wichtige Aufnahme in eine Krankenkasse. „Vorher gab es für ihn nur Schmerzbehandlung, jetzt geht es darum, seine Lebensqualität zu verbessern“, sagt Baitz. In einem Jahr, so die Einschätzung der Ärzte, soll Abdul Hai sich so weit von den Folgen der Bombe erholt haben, dass er eine Prothese tragen kann. Aber statt ans Laufen denkt der junge Mann nur an eins: sein Abitur und seine Ausbildung. Denn er will Geld verdienen. Geld, das seine Familie dringend braucht, für die Ausreise, Lebensmittel und Medikamente. Er hat sich zum Teil selbst Deutsch beigebracht, auf seinem Smartphone – ein Geschenk eines Freundes – hat er Videos, die auf Arabisch deutsche Wörter erklären. Außerdem hat er auf dem Handy seine Verletzungen und ihren Heilungsprozess mit Fotos und Videos dokumentiert. Meistens sieht man ihn auf einem Krankenbett liegend, mal in Libyen, mal in Deutschland. Auf einem Foto hält er stolz seinen amputierten Mittelfinger in die Kamera. Jeden Splitter, der Abdul Hai bisher entfernt wurde, bewahrt er sorgfältig auf. Eine zwei Zentimeter gro­ ße Patronenhülse, aus seinem Oberschenkel herausoperiert, auch. Mohamad Abdul Hai richtet sich in seinem Rollstuhl auf und lässt den Blick über die Einfamilienhäuser auf der anderen Straßenseite schweifen. „Wo ich wohne, das ist ein Heim. Ein Haus wie da drüben, das ist ein Zuhause“, sagt er traurig.

WOHNUNG GESUCHT

Details Mohamad Abdul Hais zukünftige Zwei-Zimmer­Wohnung sollte barrierefrei sein, gerne darf sie auch im Obergeschoss liegen, wenn ein funktionstüchtiger Fahrstuhl vorhanden ist. Eine tiefgelegte Küche oder eine behindertengerechte Dusche ist nicht notwendig. Damit Abdul Hai seine Betreuerin schnell erreichen kann, sollte die Wohnung in Vaihingen, Möhringen oder Umgebung liegen. Bis zu einem maximalen Preis von 500 Euro Kaltmiete übernimmt das Jobcenter die Kosten für den jungen Syrer. Wer eine geeignete Wohnung weiß, kann sich per E­Mail an maren.waschke@web.de wenden.

Published in: Stuttgarter Zeitung, Filder-Zeitung, Samstag, 18. Juli 2015

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